Parentifizierung – Wenn Kinder zu Eltern werden müssen und warum Hochsensible besonders betroffen sind

Parentifizierung – Wenn Kinder zu Eltern werden müssen und warum Hochsensible besonders betroffen sind
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„Mit sieben Jahren habe ich zum ersten Mal Wäsche gewaschen. Mit acht habe ich gekocht. Mit neun den Haushalt allein geführt. Und mit zehn war ich der einzige Mensch, mit dem meine Mutter über ihre tiefste Verzweiflung sprach.“ So begann die Geschichte einer Klientin, die in einer Kindheit gefangen war, die viel zu früh zu Ende ging. Statt Unbeschwertheit und Geborgenheit erlebte sie Verantwortung, Überforderung und emotionale Lasten, die kein Kind tragen sollte.

Parentifizierung ist ein unsichtbares Trauma

Es ist die Umkehr der natürlichen Rollenverteilung in der Familie: Kinder werden zu Eltern, sie übernehmen Verantwortung, die sie nicht tragen sollten, und zahlen dafür mit ihrer eigenen Kindheit. Und hochsensible Menschen sind davon besonders oft betroffen.

Die Geschichte einer Kindheit, die keine war

Als meine Klientin sieben Jahre alt war, begann ihre Mutter, sich immer weiter zurückzuziehen. Die Depressionen wurden schlimmer. Sie lag oft tagelang im Bett, sprach kaum, aß wenig. Doch was sie konnte, war: reden – und zwar mit ihrer Tochter. Sie erzählte ihr alles. Ihre Ängste, ihre Verzweiflung, ihren Lebensüberdruss. Und während sie sprach, lag sie im Bett – und ließ sich versorgen. Das Kind machte Frühstück für die jüngeren Geschwister. Es räumte die Küche auf. Es übernahm die Wäsche. Es kochte das Abendessen. Es deckte den Tisch, räumte den Tisch wieder ab. Es tröstete die Mutter, wenn sie weinte. Und wenn sie wütend wurde, stand es bereit, um sich schuldig zu fühlen. Jahre vergingen. Und je älter meine Klientin wurde, desto komfortabler wurde die Situation für ihre Mutter. Sie musste nichts mehr tun. Sie hatte ihre eigene Tochter zur perfekten Haushälterin, Krankenschwester und Therapeutin geformt. Und warum sollte sie daran etwas ändern? Als meine Klientin in die Pubertät kam, erkannte sie es zum ersten Mal:

Es ging nicht mehr nur um Depressionen

Es ging um Macht, Bequemlichkeit und emotionale Abhängigkeit. Sie hatte sich jahrzehntelang selbstlos geopfert. Und ihre Mutter hatte sich daran gewöhnt, dass sie versorgt wurde. Dass man sich um sie kümmerte. Dass sie nicht kämpfen musste. Und genau in dieser Erkenntnis lag der erste Schritt zur Heilung.

Warum hochsensible Menschen besonders betroffen sind

Parentifizierung passiert nicht jedem Kind. Kinder mit starkem Temperament, die früh rebellieren, die sich abgrenzen, die ihre eigenen Bedürfnisse verteidigen – sie geraten seltener in diese Rolle. Doch viele hochsensible Kinder haben eine andere Struktur:

  • Sie spüren von klein auf, was andere brauchen.
  • Sie fühlen sich verantwortlich für die Stimmungen ihrer Eltern.
  • Sie fürchten Konflikte und Streit – und ordnen sich unter, um Harmonie zu bewahren.
  • Sie haben oft eine starke Empathie, die sie in eine Helferrolle drängt.
  • Sie sind introvertiert oder leise, gehen Problemen aus dem Weg und tun alles, um nicht zusätzlich zur Belastung zu werden.

Und genau deshalb werden sie überdurchschnittlich oft parentifiziert.

Wie wirkt sich Parentifizierung im Erwachsenenleben aus?

Menschen, die als Kind parentifiziert wurden, tragen oft ein tief verwurzeltes Muster mit sich:

  • Sie fühlen sich für das Wohlergehen anderer verantwortlich.
  • Sie setzen ihre eigenen Bedürfnisse hintenan.
  • Sie übernehmen automatisch die Rolle des „Problemlösers“ in Beziehungen.
  • Sie leiden unter Überforderung, Erschöpfung und Burnout.
  • Sie haben Schwierigkeiten, Hilfe anzunehmen oder sich schwach zu zeigen.
  • Sie geraten in Co-Abhängigkeiten oder ungesunde Beziehungen, in denen sie wieder die „Kümmerer“-Rolle übernehmen.

Viele von ihnen erkennen nicht einmal, dass sie selbst ein Recht auf Unterstützung haben.

Was machen wir als Coach?

  1. Bewusstmachung – „Es war nicht deine Aufgabe.“
    Viele Menschen haben ihr ganzes Leben lang die Rolle des „Versorgers“ gespielt. Sie halten sie für normal. Im Coaching geht es darum, diese Dynamik sichtbar zu machen.

 

  1. Innere Erlaubnis zur Abgrenzung – „Du darfst Nein sagen.“
    Viele ehemalige parentifizierte Kinder haben Angst vor Abgrenzung. Sie fürchten Ablehnung, Schuld oder Strafe. Im Coaching lernen sie, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse achten dürfen – ohne Angst.

 

  1. Trennung von Schuld und Verantwortung – „Du bist nicht mehr das Kind.“
    Häufig tragen diese Menschen das Gefühl, sie müssten ihre Eltern oder andere retten. Aber das ist nicht ihr Job.

 

  1. Reparenting – Die innere Mutter aktivieren
    Manche Klienten brauchen einen nachträglichen Prozess der Fürsorge – ein „Nachbeeltern“ durch sich selbst oder durch den Coach. Es geht darum, sich die Wärme, Liebe und Bestätigung zu geben, die damals gefehlt hat.

 

  1. Neue Rollen lernen – „Ich bin wertvoll, auch wenn ich nichts für andere tue.“
    Viele parentifizierte Menschen definieren sich über Leistung und Aufopferung. Im Coaching geht es darum, eine neue Identität zu entwickeln. Eine Identität, die nicht vom Dienen abhängt.

 

Freiheit beginnt mit der Erlaubnis, sich selbst an die erste Stelle zu setzen

Meine Klientin hat sich befreit. Sie hat den Knoten gelöst.

Es war ein langer Weg. Ein schmerzhafter Weg.

Aber es war der Weg zurück zu sich selbst.

Und genau das ist die wichtigste Erkenntnis für alle, die parentifiziert wurden:

  • Du bist nicht hier, um andere zu retten.
  • Du bist nicht hier, um dich aufzugeben.
  • Du darfst dich selbst an erste Stelle setzen.
  • Denn das ist kein Egoismus.
  • Das ist Heilung.
 

Ich hoffe, ich habe das Geschenk deiner Zeit verdient.

Sonnige Grüße von
Anne

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