Coaching oder Therapie? So erkennst du den Unterschied – besonders bei Hochsensibilität & Burnout

Coaching oder Therapie? So erkennst du den Unterschied
Teilen oder merken

Coaching oder Therapie? Diese Frage stellen sich viele Coaches – besonders dann, wenn sie mit hochsensiblen, hochbegabten oder anderweitig neurodivergenten Menschen arbeiten. Denn häufig verbergen sich hinter typischen Coachinganliegen wie Erschöpfung, Selbstzweifeln oder Entscheidungsproblemen tieferliegende Traumafolgen oder erste Anzeichen eines Burnouts. In diesem Artikel erfährst du, woran du erkennst, wann Coaching sinnvoll ist – und wann therapeutische Unterstützung notwendig wird. Besonders wichtig für alle, die mit Menschen aus dem HOCHiX Spektrum arbeiten.

Warum die Unterscheidung zwischen Coaching und Therapie bei neurodivergenten Menschen so schwierig ist

Menschen mit Hochsensibilität, Hochbegabung oder ADHS erleben die Welt intensiver. Viele tragen eine tiefe Geschichte in sich – oft ohne Worte dafür zu haben. Sie erscheinen im Außen leistungsfähig, reflektiert, kreativ. Doch in ihrem Inneren ringen sie mit Unsicherheit, Erschöpfung oder fragmentierten Selbstbildern.

Solche Klienten suchen im Coaching nicht selten nach Struktur, Entscheidungsfähigkeit oder Berufung – und stoßen stattdessen auf unverarbeitete Kindheitserlebnisse, tiefe Selbstzweifel oder emotionale Erstarrung. Die Grenze zwischen Coaching und Therapie verschwimmt dabei leicht.

Gerade hier ist deine Klarheit als Coach entscheidend: Du musst unterscheiden können – und handeln.

Coaching oder Therapie? Die wichtigsten Unterschiede auf einen Blick

Coaching richtet sich an gesunde, handlungsfähige Menschen mit einem klaren Veränderungswunsch. Es arbeitet zukunftsorientiert, stärkt Selbstwirksamkeit, aktiviert Ressourcen und begleitet zielgerichtet.

Psychotherapie setzt dort an, wo Leidensdruck, Symptomatik oder Dysregulation die Handlungsfähigkeit massiv beeinträchtigen. Sie stabilisiert, heilt, integriert – besonders dann, wenn psychische Verletzungen vorliegen.

Wie Schareck (2022) betont, kann Coaching eine ergänzende Maßnahme zur Psychotherapie sein. Aber: Ein Coaching darf niemals ein Ersatz für Therapie sein. Und: Ein bloßer Hinweis „Coaching ist keine Therapie“ reicht nicht aus. Die Abgrenzung muss gelebt, kommuniziert und im Notfall gezogen werden – mit ethischer Klarheit.

Quelle:
Schareck, A. (2022). Coaching und Psychotherapie – Wo ist die Grenze? In: Coaching-Magazin, https://www.coaching-magazin.de/beruf-coach/mein-klient-braucht-therapie

Hochsensibilität und Burnout: Typische Coachingthemen mit therapeutischem Hintergrund

Viele hochsensible Menschen klagen über Überforderung, ständige Gedankenkreise, Selbstzweifel oder Erschöpfung. Auf den ersten Blick wirkt das wie ein „typisches Coachingthema“. Aber oft liegen darunter:

  • Nicht integrierte Traumafolgen
  • Bindungsverletzungen
  • Chronische emotionale Dysregulation
  • Erste Anzeichen eines Burnout-Syndroms

Wenn du als Coach beginnst, an der Oberfläche zu arbeiten, und dein Gegenüber kollabiert emotional – dann brauchst du kein besseres Coachingmodell. Du brauchst das Bewusstsein, dass hier ein anderes Setting notwendig ist.

Traumafolgen im Coaching erkennen: Körpersignale, Mimik und Verhalten

Viele Menschen aus dem HOCHiX Spektrum kommunizieren ihre innersten Themen nicht über Worte – sondern über ihren Körper. Und dieser spricht oft sehr deutlich:

  • Plötzliche Erstarrung oder emotionale Überflutung
  • Zittern, Übelkeit, flache Atmung
  • Blickvermeidung, abruptes Themawechseln
  • Kognitive Übersteuerung („Ich rede ganz schnell, damit ich nichts fühle“)

Diese Signale zeigen: Der Mensch vor dir ist nicht im Hier und Jetzt. Du bist im Kontakt mit einem inneren Kind, einem Trauma-Anteil oder einem dysregulierten Nervensystem. Coachingmethoden greifen hier nicht – sie könnten sogar retraumatisieren.

Fallbeispiele: Wann Coaching nicht mehr reicht

Fall 1: Die kreative Vielbegabte mit „plötzlichem Blackout“

Ausgangslage:
Johanna, 38, vielseitig begabt, selbständig mit eigenem Online-Business. Sie kommt ins Coaching, weil sie sich beruflich neu ausrichten möchte. Bereits in der ersten Sitzung bricht sie beim Thema „Entscheidungen treffen“ in Tränen aus – „Ich kann einfach nichts zu Ende bringen, ich hasse mich dafür.“

Beobachtung:
Ihre Stimme kippt, ihre Hände zittern. Beim Rückblick auf ihre Schulzeit wird sie fahrig, berichtet von „ständiger Angst vor Fehlern“ und „dem Gefühl, ausgeliefert zu sein“. Ihr Körper fällt regelrecht in sich zusammen.

Bewertung:
Dieses Thema liegt nicht (nur) im Bereich Selbstorganisation. Das emotionale Erregungsniveau, die Triggersymptomatik und die tiefe Selbstabwertung deuten auf nicht integrierte Kindheitserfahrungen hin.

Empfehlung:
Schon nach der zweiten Sitzung sanfte Weitervermittlung an eine traumasensible Therapeutin – in Absprache mit Johanna. Später ist ein Re-Coaching zur beruflichen Neuausrichtung wieder möglich, aber nicht im jetzigen Zustand.

Fall 2: Der hochsensible Mann in Führungsposition mit Burn-out-Symptomatik

Ausgangslage:
Andreas, 47, Teamleiter in einem IT-Unternehmen, berichtet im Vorgespräch, dass er „in letzter Zeit oft müde“ sei und „nicht mehr richtig klar denken“ könne. Er möchte lernen, sich besser abzugrenzen.

Beobachtung:
Er redet leise, vermeidet Blickkontakt, antwortet oft mit langen Pausen. Auf die Frage, wie er schläft, folgt ein tiefes Seufzen. Als es um seine Rolle im Team geht, kommen Sätze wie „Ich funktioniere irgendwie, aber innerlich ist alles leer“.

Bewertung:
Typische Erschöpfungssymptomatik. Coaching zur Abgrenzung wäre zu früh. Die Ressourcenlage ist zu fragil. Zudem bestehen Anzeichen einer beginnenden Depression (soziale Rückzüge, Erschöpfung, Anhedonie).

Empfehlung:
Dringende Empfehlung zur medizinisch-therapeutischen Abklärung. Zusätzlich: kurze Psychoedukation zu Burn-out und Übererregungssystem. Erst nach Stabilisierung ist ein ressourcenfokussiertes Coaching möglich.

Fall 3: Die hochfunktionale Autistin mit Beziehungsfragen

Ausgangslage:
Nora, 34, Diagnostik: hochfunktionaler Autismus. Sie kommt ins Coaching, weil sie in ihrer Partnerschaft „emotional nichts mehr fühlt“. Sie wirkt ruhig, analytisch, sehr reflektiert.

Beobachtung:
Im Gespräch ist sie klar, stabil, strukturiert. Körperlich entspannt, fokussiert. Ihre Frage: Wie kann ich mit meinem Partner wieder mehr Verbundenheit erleben, ohne mich selbst zu verlieren?

Bewertung:
Typische neurodivergente Beziehungsdynamik, aber keine Anzeichen für therapeutische Themen. Nora ist emotional zugänglich, kann über sich sprechen, erkennt ihre Anteile.

Empfehlung:
Coaching ist hier sinnvoll und hilfreich. Ziel: Beziehungskompetenz stärken, Kommunikationsstrategien entwickeln, Selbstakzeptanz vertiefen. Ein therapeutisches Setting ist nicht notwendig.

Fall 4: Die junge Frau mit „Selbstzweifeln“, die sich als Trauma entpuppen

Ausgangslage:
Lina, 29, Scanner-Persönlichkeit, erzählt von „ständiger Selbstsabotage“ und dem Gefühl, „niemals irgendwo richtig dazu zu gehören“. Sie hat bereits viele Online-Kurse gemacht, aber nichts umgesetzt.

Beobachtung:
Sobald es um die Mutter-Kind-Dynamik geht, wird sie still. Tränen laufen, ohne dass

sie weint. Auf die Frage, was ihr Vater zu ihr gesagt hat, kommt nur: „Ich war nie wichtig.“

Bewertung:
Hier liegt keine klassische Scanner-Blockade vor, sondern tiefliegende Bindungsverletzung. Das Coachinganliegen (Berufung finden) berührt eine unbewältigte emotionale Verwundung.

Empfehlung:
Coaching stoppen. Weiterverweisung an eine therapeutische Fachkraft mit Schwerpunkt Bindungstrauma. Begleitung kann später im lösungsorientierten Modus fortgesetzt werden.

Reflexionsfragen für dich als HOCHiX Coach

Diese Fragen helfen dir, im Praxisalltag schnell und differenziert zu erkennen, ob dein Gegenüber im Coaching gut aufgehoben ist oder eine therapeutische Begleitung braucht:

  • Was spüre ich im Kontakt mit der Klientin? Werde ich selbst unruhig, überfordert oder gerate in ein Helferbedürfnis?
  • Habe ich den Eindruck, dass sie stabil genug ist, sich auf ein Coaching einzulassen – oder wirkt sie eher dissoziiert oder emotional überflutet?
  • Könnte ich mit ihr heute eine Visualisierung, eine Timeline oder eine systemische Aufstellung machen, ohne dass sie destabilisiert?
  • Wie stabil wirkt ihre Selbstwahrnehmung? Kann sie über sich und ihre Gefühle reflektieren oder bleibt sie ausschließlich im Außen?
  • Wie reagiert ihr Körper auf bestimmte Themen? Gibt es Anzeichen von Stress, Übererregung oder Erstarrung?
  • Habe ich den Eindruck, dass sie aus ihrer Kraft heraus handeln kann – oder befindet sie sich im Überlebensmodus?
  • Was sagt ihr Umfeld? Gibt es Rückmeldungen von Partnern, Freunden oder Kollegen, die auf ein tieferliegendes Problem hindeuten?

Deine Rolle als HOCHiX Coach: Verantwortung statt Vermeidung

Als HOCHiX Coach begleitest du keine Zielgruppe „wie jede andere“. Du arbeitest mit Menschen, deren emotionale Tiefe, kognitive Komplexität und seelische Verletzlichkeit außergewöhnlich sind. Deshalb braucht deine Haltung:

  • Klarheit in der eigenen Rolle
  • Kenntnis therapeutischer Anzeichen
  • Ein Netzwerk von Fachleuten
  • Mut zur Weiterverweisung

Du darfst nicht therapieren – aber du musst erkennen, wann Therapie notwendig ist.

Wie du klar, liebevoll und professionell weiterverweist

Wenn du erkennst, dass Coaching nicht ausreicht, braucht es kein Drama. Sondern Klarheit.

Beispielsatz:

„Ich spüre, dass dieses Thema sehr tief geht. Und ich habe großen Respekt dafür, wie du damit umgehst. Gleichzeitig glaube ich, dass es jetzt etwas braucht, das über den Coachingrahmen hinausgeht. Ich möchte dir jemanden empfehlen, der dich in einem therapeutisch sicheren Raum begleiten kann.“

Das ist keine Schwäche. Das ist professionelle Integrität.

Coaching oder Therapie? Klarheit ist Fürsorge

Du bist HOCHiX Coach, kein Therapeut. Und das ist gut so. Denn deine Stärke liegt in der Begleitung von Menschen, die bereit sind, sich zu entfalten. Aber nicht jeder Mensch ist zu jedem Zeitpunkt coachbar.

Du darfst erkennen, wann Entwicklung möglich ist – und wann zuerst Heilung gebraucht wird. Deine Fähigkeit, diesen Unterschied zu benennen, entscheidet über Qualität, Ethik und Wirksamkeit deiner Arbeit.

Und manchmal beginnt wahre Veränderung mit einem Satz wie:

„Du brauchst gerade etwas anderes. Und das ist absolut in Ordnung.“

Ich hoffe, ich habe das Geschenk deiner Zeit verdient.

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Mehr zum Thema