Schluss mit Kriegsenkel-Logik: Dein Leben ist nicht das deiner Oma

Schluss mit Kriegsenkel-Logik: Dein Leben ist nicht das deiner Oma
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Transgenerationale Traumata sind ein Hype geworden. Es gibt Kongresse, Bücher, Podcasts, Gruppen, die sich ausschließlich damit beschäftigen. „Ich kann doch nicht anders – meine Oma hatte ein Kriegstrauma.“ „Ich trage das Leid meiner Ahnen in mir.“ „Ich bin blockiert, weil mein Vater nie über Gefühle sprechen konnte.“ All das ist inzwischen so normal geworden, dass kaum noch jemand erkennt, was daran eigentlich gefährlich ist. Denn das ist es – hochgefährlich. Nicht weil es diese Prägungen nicht gäbe, sondern weil sie zu oft als Ausrede missbraucht werden.

Transgenerationale Traumata: Erkenntnis oder bequemes Konzept?

Natürlich gibt es epigenetische Weitergaben. Natürlich hinterlässt kollektives Leid wie Krieg, Verfolgung, Flucht, Missbrauch Spuren – nicht nur in den Menschen selbst, sondern auch in ihren Kindern und Enkeln. Und natürlich kann man das erforschen, verstehen und würdigen. Aber das bedeutet nicht, dass du heute keine Wahl mehr hättest. Und es bedeutet vor allem nicht, dass du dein Verhalten, dein Leiden oder dein Nichtstun auf das Leid deiner Vorfahren schieben kannst.

Wer sich in transgenerationalen Konzepten einrichtet wie in einem bequemen Sessel, hat vielleicht einen spannenden Aha-Moment, aber keine Transformation. Die Verantwortung fängt genau da an, wo das Erbe aufhört. Du bist nicht das Echo deiner Familie. Du bist ein eigenständiger Mensch mit Möglichkeiten, die deine Großeltern sich nicht mal hätten vorstellen können. 

Diese Theorie ist in der Hochsensibilitäts-Szene weit verbreitet und wird selten hinterfragt

Gerade in hochsensiblen, hochsensitiven oder spirituell offenen Kreisen ist das Konzept des transgenerationalen Traumas fast schon ein Glaubenssatz geworden. Viele identifizieren sich tief mit der Rolle des „Kriegsenkels“, der noch immer die seelischen Trümmer seiner Vorfahren aufräumen muss. Es scheint fast, als gäbe es eine stille Übereinkunft: Wer viel spürt, muss viel geerbt haben.

Aber genau das ist eine gefährliche Verwechslung. Hochsensitivität ist kein Beweis für transgenerationales Leid. Und auch keine Legitimation, sich dem eigenen Leben zu entziehen. Gerade Menschen mit intensiver Wahrnehmung brauchen eine besonders klare innere Unterscheidung: Spüre ich mich – oder spüre ich meine Geschichte? Erkenne ich Muster – oder übernehme ich sie blind?

Wenn du viel spürst, dann nutze diese Fähigkeit zur Differenzierung. Nicht zur Flucht in alte Erzählungen.

Neurodivergenz ist kein Opferstatus, sondern Gestaltungspotenzial

Gerade für hochsensible, hochbegabte, vielbegabte oder neurodivergente Menschen ist die Versuchung groß, sich mit dem Gewicht der Vergangenheit – dem Trauma eines Ahnen – zu identifizieren. Es fühlt sich manchmal so an, als würde man mehr spüren, mehr wissen, mehr tragen. Und das mag sogar stimmen. Aber genau deshalb ist es umso wichtiger, sich nicht in der Geschichte zu verlieren.

Neurodivergenz ist keine Ausrede. Sie ist auch kein Ticket in eine lebenslange Therapieschleife. Sie ist eine Einladung zur Klarheit, zur Selbstverantwortung und zur aktiven Gestaltung. Du hast gespürt, dass du anders bist. Gut so. Dann sei auch anders in deiner Haltung: mutig, eigenständig, gegen den Strom.

Wir brauchen keine Kriegsenkel-Therapien, sondern erwachsene Entscheidungen

So viele Menschen suchen heute nach Erklärungen. Das ist verständlich – aber brandgefährlich, wenn die Erklärung zum Endpunkt wird. Dann wird aus Erkenntnis eine Sackgasse. Und aus Verantwortung wird Vermeidung. „Ich kann nicht anders, weil …“ ist das Gegenteil von Entwicklung.

Hör auf, in den Wunden deiner Familie zu baden. Du bist nicht verpflichtet, sie weiterzutragen. Und du bist auch nicht verpflichtet, sie zu heilen. Aber du bist verantwortlich für dein Leben. Für das, was du heute wählst, denkst, fühlst, sagst. Und genau da beginnt Freiheit

Verantwortung ist deine größte Macht

Du musst dich nicht schuldig fühlen für deine Herkunft. Aber du darfst dich auch nicht hinter ihr verstecken. Ja, unsere Vorfahren haben gelitten. Ja, viele von ihnen waren emotional nicht erreichbar, verletzt, verhärtet, sprachlos. Aber das bedeutet nicht, dass du heute dasselbe Leben führen musst.

Du kannst dich entscheiden: für ein anderes Denken, ein anderes Fühlen, ein anderes Handeln. Du kannst dich bewusst gegen das Wiederholen entscheiden. Und für deine eigene Geschichte.

Du bist kein Kriegsenkel: Du bist ein Möglichkeitsmensch

Dieser Artikel ist eine Einladung zur Gegenwart. Schluss mit dem transgenerationalen Schwachsinn, der dich in der Vergangenheit festhält. Du bist kein Verlängerungskabel für die Traumata deiner Vorfahren. Du bist ein Mensch mit Bewusstsein, mit Wahlmöglichkeiten, mit Verantwortung.

Und genau da beginnt der Unterschied. Nicht in der Analyse – sondern in der Entscheidung. Nicht im Rückblick – sondern im Aufbruch.

Willkommen in deinem Leben. Jetzt.

Reflektionsfragen für dich

  • Was wiederholst du in deinem Leben, obwohl du es längst durchschaut hast?
  • Wo erklärst du dein Verhalten mit deiner Herkunft – und wo beginnst du, selbst zu gestalten?
  • Welche Entscheidungen triffst du heute, die deine Vorfahren gar nicht hätten treffen können?
  • Wem nützt es, wenn du in alten Geschichten festhängst – und wem schadest du damit?
 

Wofür willst du deine Energie verwenden?

Es kostet exakt die gleiche Energie, dich mit dem Schmerz deiner Mutter zu beschäftigen wie mit der Heilung deiner Gegenwart. Es kostet dich dieselbe Kraft, dich in die Geschichten deiner Ahnen hineinzudenken, wie dich auf neue, mutige Optionen in deinem Leben auszurichten. Du zahlst also – in jedem Fall.

Die Frage ist nur: Womit willst du bezahlen?

Du hast die Wahl. Jeden Tag. Du kannst dich in der Vergangenheit wälzen – in deiner eigenen oder in der der Oma, des Onkels, der Vaterlinie, der Mutterwunde. Du kannst endlos analysieren, erklären, rekonstruieren – wohlwissend, dass du niemals wissen wirst, was wirklich war. Und dass viele Antworten nur Konstrukte deines Verstandes sind, der sich krampfhaft an eine Logik klammert, wo es eigentlich um etwas anderes geht: um Entscheidung.

Denn wir beantworten uns mit diesen Konstruktionen letztlich unsere eigenen Fragen – und machen damit den Bock zum Gärtner. Das ist bequem, aber nicht klug. 

Wirklich smart ist es, in Lösungen zu denken und zu handeln. 

Genau so, wie wir im konsequent lösungsorientierten Coaching arbeiten: Da zählt nicht die hundertste Analyse der Ursache, sondern die Frage nach der nächsten Bewegung. Nicht das Warum, sondern das Wozu.

Du kannst also wählen, ob du deine Lebensenergie in eine unendliche Nabelschau investierst – oder in deinen nächsten Schritt.

Hinweise für Coaches und Menschenbegleiter

Wenn du mit hochsensiblen, hochbegabten oder neurodivergenten Menschen arbeitest, sei wachsam: Erkenntnisse über Familienmuster können transformierend sein – oder lähmend.

Achte darauf, ob dein Klient beginnt, sich in Herkunftserzählungen einzurichten. Biete Raum für Würdigung – aber führe weiter in die Eigenverantwortung. Frage nicht nur: „Was war bei deinen Eltern los?“, sondern auch: „Was willst du heute anders leben?“

Vermeide es, ein Narrativ zu stärken, das Menschen klein macht. Unterstütze stattdessen jene innere Haltung, die sagt: „Ich sehe, was war. Und ich entscheide, wer ich jetzt bin.

Ich hoffe, ich habe das Geschenk deiner Zeit verdient.

Herzlichst

Anne

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