Oversharing in Sharingrunden: Wenn „Teilen“ zur Belastung wird

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In psychosozialen Kreisen, während Seminaren, Weiterbildungen und Coachingprozessen sind Sharingrunden eine gängige Praxis. Die Idee dahinter ist einfach und effektiv: Jeder Teilnehmer teilt seine aktuelle Befindlichkeit, sagt, wie es ihm geht, damit alle anderen ihn besser verstehen und ihm entsprechend begegnen können. Diese Runden sind kein Dialog, es gibt keine Rückmeldungen oder Diskussionen, sondern es geht allein ums Mitteilen und Loslassen. Während Seminaren oder Workshops ist es oft auch außerhalb einer „offiziellen“ Sharingrunde üblich, die eigene Befindlichkeit zu teilen. Doch was passiert, wenn das Teilen außer Kontrolle gerät und zum Oversharing wird?

Gestern hatte ich eine besondere Begegnung

Es war bei einem Gruppen-Meeting. Ich stellte einer Frau ganz nebenbei eine kurze Frage und bekam eine etwa 10 Minuten dauernde Antwort. Nur der kleinste Teil hatte etwas mit meiner Frage zu tun. Das Wort ICH kam ungefähr 30-mal vor. Nebenbei umfasste die Antwort einen großen Teil der Lebensgeschichte. Danach hatte ich aber nicht gefragt.

So konnte ich eine wichtige Erfahrung machen: OVERSHARING.

Was ist Oversharing?

Oversharing bezeichnet das Phänomen, wenn Menschen mehr preisgeben, als für den Kontext angemessen ist. Sie erzählen ihre ganze Lebensgeschichte, tauchen tief in ihre Emotionen ein und verlieren sich in Details, die für die Zuhörer belastend oder unangenehm sein können.

Oft merken sie gar nicht, dass sie die Grenze zwischen nützlichem Austausch und emotionaler Überwältigung überschritten haben.

Warum neigen manche Menschen zum Oversharing?

Verschiedene Faktoren können dazu führen, dass Menschen zum Oversharing neigen:

  1. Selbstfokussierung:
    Manche Personen halten sich selbst für den Nabel der Welt. Ihre eigenen Erlebnisse und Gefühle erscheinen ihnen so wichtig, dass sie davon überzeugt sind, jeder müsse daran teilhaben.
  2. Unbewusste Bedürftigkeit:
    Menschen, die sich übermäßig mitteilen, suchen oft unbewusst nach Anerkennung, Verständnis oder Mitgefühl. Sie hoffen, durch das Teilen ihrer tiefsten Gedanken und Gefühle eine Verbindung zu den anderen herzustellen.
  3. Mangel an Selbstregulation:
    Viele Oversharer erkennen nicht, wann es Zeit ist, sich zurückzunehmen. Sie sind so in ihre eigene Gefühlswelt vertieft, dass sie die Reaktionen ihrer Zuhörer nicht wahrnehmen oder ignorieren.
  4. Sie befinden sich in einer Problemtrance und können diese noch nicht erkennen.
 

Lies dazu auch:

Die drei Siebe des Sokrates: Eine Weisheit für Coaching, Seminarleitung und das Leben. Hierbei geht es um ein einfaches, aber kraftvolles Werkzeug, das ich wirklich in allen Coaching-Sitzungen und Seminaren zu Beginn erwähne und das auch im täglichen Leben angewendet werden kann, – nein, sollte. Es fördert die Achtsamkeit und vereinfacht das Leben.

 

Die Auswirkungen von Oversharing

Oversharing kann in Sharingrunden erhebliche Auswirkungen haben:

  • Belastung der Zuhörer:
    Anstatt eine unterstützende und entspannte Atmosphäre zu schaffen, können endlose Geschichten und tiefgehende Emotionsausbrüche das Gegenteil bewirken. Die Zuhörer fühlen sich überwältigt, emotional erschöpft und vielleicht sogar hilflos.
  • Verlust des Fokus:
    Sharingrunden sollen einen Raum bieten, in dem jeder Teilnehmer kurz und prägnant seine aktuelle Befindlichkeit schildern kann. Wenn jedoch eine Person die Runde dominiert, bleibt wenig Raum für die Anliegen der anderen.
  • Erschwerte Gruppenprozesse:
    Oversharing kann das Gruppengefüge stören. Wenn eine Person ständig im Mittelpunkt steht, kann dies Spannungen und Frustrationen innerhalb der Gruppe hervorrufen.
 

Wie du Oversharing bei dir erkennen und dem entgegenwirken kannst

Oversharing in Sharingrunden zu vermeiden, erfordert Achtsamkeit und Selbstreflexion. Hier sind einige Tipps:

  • Sei aufmerksam für deine eigenen Grenzen:
    Achte darauf, wie viel du von dir preisgibst. Frage dich: Ist es wirklich notwendig, so tief in meine Gefühle einzutauchen? Was ist für die anderen wirklich relevant?
  • Übe Selbstreflexion:
    Frage dich nach der Runde, ob deine Beiträge hilfreich und angemessen waren. Hast du mehr geteilt, als nötig? Hast du die Reaktionen der anderen wahrgenommen?
 

Wie du Oversharing als Moderator begegnen kannst

Als Gruppenleiter oder Moderator spielst du eine entscheidende Rolle bei der Vorbeugung und Bewältigung von Oversharing. Hier sind einige effektive Strategien, die du anwenden kannst:

  1. Etabliere eine klare Leitung:
    Es ist wichtig, dass du als Moderator die Führung übernimmst. Ohne eine klare Leitung kann eine Sharingrunde schnell ausufern.
  2. Setze Regeln:
    Definiere zu Beginn der Sitzung die Rahmenbedingungen für das Sharing. Kommuniziere diese Regeln deutlich an alle Teilnehmer. Zum Beispiel:
    • Jeder hat maximal 2-3 Minuten Redezeit
    • Fokus auf aktuelle Befindlichkeit, keine ausführlichen Lebensgeschichten
    • Keine Unterbrechungen oder Kommentare zu den Beiträgen anderer
  3. Übe sanfte Unterbrechungen:
    Greife behutsam ein, wenn jemand abschweift oder die Zeitgrenze überschreitet. Beispiel: „Danke für dein Sharing. Um sicherzustellen, dass wir alle zu Wort kommen, möchte ich dich bitten, zum Abschluss zu kommen.“
  4. Fördere Selbstreflexion:
    Ermutige die Teilnehmer, über die Angemessenheit des Geteilten nachzudenken. Du kannst Leitfragen vorgeben wie: „Was ist das Wesentliche, das ich jetzt mitteilen möchte?“  (Die drei Siebe des Sokrates)
  5. Führe Einzelgespräche:
    Sprich Personen, die zum Oversharing neigen, unter vier Augen an. Erkläre ihnen freundlich, wie sich ihr Verhalten auf die Gruppe auswirkt und gib Tipps zur Verbesserung.
  6. Biete alternative Ausdrucksmöglichkeiten:
    Stelle zusätzliche Formate bereit, in denen Teilnehmer ausführlicher teilen können, z.B. schriftliche Reflexionen oder optionale Einzelgespräche.
  7. Modelliere angemessenes Sharing:
    Beginne die Runde selbst mit einem kurzen, fokussierten Sharing, um ein Beispiel zu setzen.
  8. Achte auf die Gruppendynamik:
    Beobachte die Reaktionen der anderen Teilnehmer. Wenn du Anzeichen von Unbehagen oder Ungeduld bemerkst, ist es Zeit einzugreifen.
  9. Wiederhole und bekräftige die Regeln:
    Erinnere die Gruppe regelmäßig an die vereinbarten Richtlinien, besonders wenn du merkst, dass sie nicht eingehalten werden.
 
 Denk daran: Als Leiter liegt es in deiner Verantwortung, einen sicheren und ausgewogenen Rahmen zu schaffen, in dem jeder Teilnehmer zu Wort kommt, ohne dass einzelne die Runde dominieren. Mit diesen Strategien kannst du eine respektvolle Sharingrunde gestalten, die allen Teilnehmern dient.
 

Ein weiterer Aspekt, den wir betrachten sollten, sind die Reaktionen der Zuhörer auf Oversharing.

Während Sharingrunden eigentlich ein Ort des Zuhörens und respektvollen Schweigens sind, kann das Übermaß an persönlichen Geschichten und Emotionen bei den anderen Teilnehmern zu inneren Widerständen führen.

Manche Menschen werden ungeduldig und fühlen sich durch die Fülle an Informationen und die ausufernde Selbstzentrierung des Oversharers überfordert. Mir geht es oft so. Es kann auch vorkommen, dass Zuhörer, obwohl es in solchen Runden nicht vorgesehen ist, ihre Wahrnehmung äußern – oft in einer Weise, die vom Oversharer als ruppig, empathielos oder distanziert wahrgenommen wird. Mir geht es oft so (weil ich zu lange warte und geduldig sein will). Manchmal werden meine Kommentare dann auch als arrogant oder überheblich empfunden, je nachdem wie die Hörenden drauf sind. Das kann natürlich die Beziehung in einer Gruppe belasten.

Diese Dynamik zeigt, wie wichtig es ist, nicht nur die eigene Selbstoffenbarung zu regulieren, sondern auch die potenziellen Auswirkungen auf das Umfeld im Blick zu behalten.

Nur so kann eine Atmosphäre geschaffen werden, in der sich alle Teilnehmer respektiert und verstanden fühlen.
 

Sharingrunden sind eine wertvolle Methode, um in Gruppenprozessen eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen.

Doch Oversharing kann dieses Ziel konterkarieren und statt Verbindung Distanz schaffen. Indem wir uns selbst reflektieren und klare Strukturen einhalten, können wir dazu beitragen, dass Sharingrunden ihren eigentlichen Zweck erfüllen – das gegenseitige Verstehen und Unterstützen.

Oversharing führt bei mir persönlich dazu, dass ich mich zurückziehe, entweder nicht teilnehme an derartige Runden, oder aber nur bei einem ganz gezielten Interesse und dann so wenig wie möglich selbst sage und äußerst zurückhaltend werde. Da habe ich noch etwas zu lernen.

Ich hoffe, ich habe das Geschenk deiner Zeit verdient.

Herzlichst,
Anne

PS:

Eine interessante Studie, die sich mit dem Thema Sharing beschäftigt, ist „The Role of Group Sharing: An Action Research Study of Psychodrama Group Therapy“ in einem psychiatrischen Krankenhaus. Diese Untersuchung zeigt, wie Gruppensharing in therapeutischen Settings genutzt wird, um Empathie und Selbstbewusstsein zu fördern sowie Stress und Angst zu reduzieren. Besonders wird beleuchtet, wie das Teilen persönlicher Erlebnisse und Emotionen innerhalb einer Gruppe den Teilnehmenden helfen kann, mit extremen psychischen Belastungen besser umzugehen.

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